46

Ashling sollte am Samstag gegen Mittag in Cork ankommen, und am Sonntag würde sie den Zug um fünf Uhr zurück nach Dublin nehmen. Das Wochenende war also lediglich achtundzwanzig Stunden lang, von denen sie acht schlafend verbringen würde. Es blieben also nur zwanzig Stunden, die sie mit ihren Eltern zusammen sein müsste. Das war doch eine Kleinigkeit!

Zwanzig Stunden! Voller Panik dachte sie, ob sie genügend Zigaretten dabei hatte. Und Zeitschriften. Und wo war ihr Mobiltelefon?

Eine vollkommen verrückte Idee, sich zu dem Besuch bereitzuerklären.

Während sie die Landschaft vor dem Fenster vorbeiruckeln sah, betete sie, dass der Zug gnädig sein und unterwegs liegenbleiben würde. Aber nein. Natürlich nicht. Das passierte nur, wenn man es verdammt eilig hatte. Dann blieb der Zug immer wieder ohne Erklärung auf einem Nebengleis stehen, man musste umsteigen in einen anderen Zug, und von dem anderen Zug in einen wartenden, eiskalten Bus, und die Fahrt, die ursprünglich drei Stunden dauern sollte, dauerte acht.

Ashling jedoch kam schreckliche zehn Minuten zu früh in Cork an. Natürlich waren ihre Eltern schon am Bahnhof und sahen mit Entschlossenheit normal aus. Ihre Mutter hätte irgendeine irische Mutter in einem gewissen Alter sein können: die nicht mehr frische Dauerwelle, das nervöse Lächeln zur Begrüßung, die Strickjacke aus Acryl, die sie sich um die Schultern gelegt hatte.

»Du bist die reinste Augenweide«, sagte Monica und war im Begriff, vor Stolz in Tränen auszubrechen.

»Du aber auch.« Ashling hatte Gewissensbisse.

Dann kam die Umarmung, bei der Monica nicht wusste, sollten sie sich damenhaft auf die Wangen küssen oder sich herzlich drücken, so dass ein unbeholfenes Gerangel entstand.

»Hallo, Dad!«

»Ehm, willkommen, willkommen, willkommen!« Mike war unbehaglich zumute - wurde von ihm eine Zärtlichkeitsbekundung erwartet? Zum Glück war da Ashlings Tasche, die er tragen konnte, wozu er alle freien Hände brauchte.

Die Fahrt zum Haus ihrer Eltern, das Gespräch darüber, was Ashling während der Zugfahrt gegessen hatte, und die Diskussion, ob sie eine Tasse Tee und ein Sandwich oder nur eine Tasse Tee haben wollte, füllten vierzig Minuten aus.

»Einfach nur eine Tasse Tee.«

»Ich habe auch Penguins«, wollte Monica sie verlocken, »und Flügelbrötchen. Ich backe sie selbst.«

»Nein, ich ... oh ...« Die Vorstellung von Flügelbrötchen verschlug Ashling die Sprache. Monica machte die Keksdose auf und zeigte ihr kleine, unförmige Küchlein, jedes mit einem kleinen Paar Flügel, das in einem Klecks Creme obenauf saß. Über die Creme waren bunte Zuckerstreusel gestreut, und als Ashling ein Stück von dem Brötchen - einen Flügel, um genau zu sein - aß, schluckte sie mit dem Bissen auch einen Kloß im Hals hinunter.

»Ich muss noch in die Stadt«, verkündete Mike.

»Ich komme mit«, sagte Ashling und schoss hoch.

»Oh, wirklich?« Monica sah sie enttäuscht an. »Na, seid aber pünktlich zum Essen wieder da!«

»Was gibt‘s denn?«

»Kotelett.«

Kotelett! Ashling hätte beinahe gekichert - sie hatte fast vergessen, dass es solche Sachen noch gab.

»Warum fahren wir in die Stadt?«, fragte sie ihren Vater, als er den Wagen aus der Einfahrt setzte.

»Um eine Heizdecke zu kaufen.«

»Im Juli?«

»Der Winter kommt im Handumdrehen.«

»Am besten, man ist gerüstet.«

Sie lächelten einander zu, doch dann musste Mike die gute Stimmung zerstören, indem er sagte: »Wir sehen dich nicht oft, Ashling.«

Oh, verdammt!

»Deine Mutter freut sich so, dass du da bist.«

Eine Reaktion war erforderlich, also sagte Ashling: »Wie, eh, geht es ihr denn?«

»Prächtig. Du solltest öfter zu Besuch kommen. Jetzt ist sie wieder die Frau, die ich geheiratet habe.«

Wieder Schweigen, dann hörte Ashling, wie sie eine Frage stellte, die, soweit sie wusste, nie zuvor gestellt worden war: »Wieso ist das alles gekommen, diese schreckliche Zeit? Was war passiert?«

Mike wandte den Blick von der Straße und sah sie mit einer beunruhigenden Mischung aus Abwehr und hartnäckiger Unschuld an - er war kein schlechter Vater gewesen. »Nichts war passiert.« Seine Fröhlichkeit erschien ihr plötzlich mitleiderregend. »Depression ist eine Krankheit, das weißt du doch.«

Als sie Kinder waren, hatte man ihnen erklärt, dass sie nichts für die Krankheit ihrer Mutter konnten. Natürlich hatten sie es nicht geglaubt.

»Ja gut, aber wie kriegt man eine Depression?« Sie wollte es verstehen.

»Manchmal wird es von einen Verlust oder - wie heißt das noch mal? - einem Trauma ausgelöst«, murmelte er. Sein Unbehagen breitete sich im Auto aus. »Aber das muss nicht so sein«, fuhr er fort, »manchmal ist es auch vererbbar, sagen sie.«

Bei diesem aufbauenden Gedanken verging Ashling die Lust an der Unterhaltung. Sie suchte in ihrer Tasche nach ihrem Mobiltelefon.

»Wen rufst du an?«

»Niemanden.«

Er sah zu, wie Ashling die Knöpfe auf ihrem Mobiltelefon drückte. Empört sagte er: »Meinst du, ich bin blind?«

»Ich rufe niemanden an, ich rufe meine Nachrichten ab.«

Marcus hatte sie seit Donnerstagabend, als er ihre Wohnung verlassen hatte, nicht angerufen. In den zwei Monaten, seit sie miteinander gingen - nicht, dass sie darüber Buch führte -, hatten sie sich täglich angerufen. Sie spürte die Nicht-Kommunikation mit ihm sehr deutlich. Mit angehaltenem Atem hoffte sie auf eine Nachricht von ihm, aber auch diesmal war keine da. Enttäuscht klappte sie das Telefon zu.

Am Abend, nach dem Abendessen, das wie eine Reise in die Vergangenheit war - Koteletts, Kartoffelpüree, Erbsen aus der Dose beschloss sie, ihn anzurufen. Sie hatte einen guten Grund: Sie wollte ihm Glück wünschen für seinen Auftritt mit Eddie Izzard.

Aber sie war - auch diesmal - mit seinem Anrufbeantworter verbunden. Sie hatte die schreckliche Vision, dass er in seiner Wohnung stand und zuhörte, während sie sprach, aber sich weigerte, den Hörer abzunehmen. Sie konnte sich nicht bremsen und wählte die Nummer seines Mobiltelefons: Auch hier war sie mit dem Anrufbeantworter verbunden. Merkur ist rückläufig, sagte sie sich. Dann gestand sie sich ein: Vielleicht ist mein Freund auch einfach sauer auf mich.

Klar, er war empfindlich getroffen, weil sie ihre Eltern besuchen wollte, aber war der Schaden wirklich so groß? Einen Moment lang erwog sie die Möglichkeit, dass er irreparabel war, was ihr ziemliche Übelkeit verursachte. Sie mochte Marcus wirklich sehr gern. In letzter Zeit hatte sie keinen anderen kennen gelernt, der ihrer Vorstellung von »dem Richtigen« für sie so nahe gekommen wäre.

Sie sehnte den Sonntagabend herbei, denn er hatte sie gebeten, dann anzurufen. Und wenn er dann immer noch nicht ans Telefon ging...? Himmel!

»Normalerweise gucken wir uns am Samstagabend ein Video an«, erklärte ihr ihre Mutter.

Verdammt in alle Ewigkeit - wie passend, dachte Ashling, als sich der Abend vor ihr wie Kaugummi ausdehnte. Sie fühlte sich ausgeschlossen und hätte alles gegeben, in Dublin zu sein, bei ihrem Freund. Während Burt Lancaster seine Liebesspielchen mit Deborah Kerr trieb, war Ashling in Gedanken in Dublin und fragte sich, wie der Abend wohl für Marcus verlief und ob Clodagh und Ted zu der Show gegangen waren. Sie war beschämt, weil sie hoffte, sie wären nicht gegangen, damit sie sich nicht noch mehr ausgeschlossen fühlte.

Ihre Eltern gaben sich sehr große Mühe. Sie holten eine Tüte mit gemischten Nüssen hervor, die sie nur wegen Ashling gekauft hatten, boten ihr verlegen einen »Drink« an, während sie selbst Tee tranken, und als Ashling beschämend früh um halb elf ins Bett ging, bestand ihre Mutter darauf, ihr eine Wärmflasche zu machen.

»Es ist doch Juli. Ich werde vergehen vor Hitze!«

»Ah, aber nachts kann es ganz schön kalt werden. Und in zwei Tagen fängt der August an, das ist der offizielle Herbstbeginn.«

»O nein, schon fast August!« Ashling schloss die Augen, ihr stockte der Atem vor Angst. Colleen sollte Ende August erscheinen, und es standen ihnen noch Berge von Arbeit bevor, sowohl was die Startparty anging als auch die Zeitschrift selbst. Solange es Juli war, hatte sie sich damit beruhigen können, dass sie noch massenhaft Zeit hatten. Aber August war viel, viel zu nah, jetzt hätte sie keine ruhige Minute mehr.

Sie nahm einen zerfledderten Agatha-Christie-Roman aus dem Regal und las eine Viertelstunde, bevor sie die Lampe mit dem pfirsichfarbenen Schirm ausknipste. Sie schlief, so gut man unter einem pfirsichfarbenen Oberbett schlafen konnte, und schaltete am nächsten Morgen als Erstes ihr Mobiltelefon an. Sie betete, dass sie eine Nachricht von Marcus hatte. Sie hatte keine - dies war ihre dunkelste Stunde. Die Tapete mit den pfirsichfarbenen und weißen Streifen, die sie umzingelte, machte alles nur noch schlimmer. Als sie nach ihren Zigaretten griff, stieß sie eine Schale mit Potpourri um. Pfirsichgeruch, was sonst?

Sie konnte ihn nicht noch einmal anrufen. Er würde denken, sie sei in heller Verzweiflung. Natürlich war sie in heller Verzweiflung, aber sie wollte nicht, dass er das dachte. Stattdessen rief sie Clodagh an, halb, weil sie sich von ihr neue Informationen erhoffte, halb, weil sie hoffte, Clodagh würde ihr nichts Neues sagen können.

»Hast du gestern Marcus gesehen?« Sie ballte die freie Hand zur Faust und hoffte, Clodagh würde nein sagen.

»Ja -«

»Bist du mit Ted gegangen?«

»Na klar.« Das stürzte Ashling in noch größeres Unbehagen. Sie glaubte eigentlich nicht, dass Clodagh jemals was mit Ted anfangen würde, es war einfach ...

Clodagh erzählte munter weiter. »Es war richtig gut, und Marcus war großartig. Es war umwerfend komisch, mit einer Nummer über Frauenklamotten. Die Unterschiede zwischen einer Bluse, einem Top, einem Unterhemd, einem T-Shirt -«

»Wie bitte?« Ted und Clodagh waren ihr plötzlich egal. Dies hatte mit ihr selbst zu tun.

»Er wusste sogar, was ein Schmetterlingshemd ist«, rief Clodagh aus.

»Das glaube ich gerne.« Eigentlich hätte Ashling sich geschmeichelt fühlen sollen, statt dessen fühlte sie sich ausgenutzt. Marcus hatte nicht einmal erwähnt, dass er vorhatte, ihr Gespräch in seiner Show zu verwenden.

»Wie er bloß auf diese Dinge kommt?«, sagte Clodagh bewundernd.

Eine berechtigte Frage.

»Und danach?«, fragte Ashling eifersüchtig. Sie wusste nicht, ob sie für weitere unwillkommene Nachrichten gewappnet war. »Seid ihr nach Hause gegangen?«

»Natürlich nicht, wir sind alle hinter die Bühne gegangen, haben Eddie Izzard kennen gelernt und uns volllaufen lassen. Es war großartig!«

Der Abschied von ihren Eltern, der sie jedesmal, auch wenn er glimpflich verlief, bedrückte, war diesmal besonders schlimm. »Hast du überhaupt einen Freund?«, fragte Mike fröhlich und rieb, ohne es zu ahnen, Salz in Ashlings Wunde. »Bring ihn doch nächstes Mal mit!«

Oh, bitte nicht.

Alle Waggons waren brechend voll, und sie war erschöpft und hatte ihre Sonntagabend-Depression, als der Zug drei Stunden später in Dublin ankam. Die alte Heimatstadt sieht aus wie immer, als ich aus dem Zug aussteige, und da begegnet mir... »Marcus!«

Ihre Augen leuchteten vor Freude, als sie ihn mit einem verlegenen Lächeln auf dem Bahnsteig stehen sah.

»Was machst du hier?«

»Ich hole meine Freundin ab. Ich habe gehört, dass es oft lange Schlangen am Taxistand gibt.«

Ein befreites Lachen perlte aus ihr hervor. Plötzlich war sie außer sich vor Glück.

Er nahm ihre Tasche in eine Hand und legte den anderen Arm um sie. »He, es tut mir Leid wegen...«

»Macht doch nichts! Mir tut es auch Leid.«

Unser erster Streit, dachte sie verträumt, als er sie zu seinem Auto führte. Unsere erste richtige Auseinandersetzung. Jetzt sind wir wirklich ein Paar.

Sushi Für Anfaenger
Sushi fuer Anfaenger.html
Section0004.html
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Sushi fuer Anfaenger-1.html
Sushi fuer Anfaenger-2.html
Sushi fuer Anfaenger-3.html
Sushi fuer Anfaenger-4.html
Sushi fuer Anfaenger-5.html
Sushi fuer Anfaenger-6.html
Sushi fuer Anfaenger-7.html
Sushi fuer Anfaenger-8.html
Sushi fuer Anfaenger-9.html
Sushi fuer Anfaenger-10.html
Sushi fuer Anfaenger-11.html
Sushi fuer Anfaenger-12.html
Sushi fuer Anfaenger-13.html
Sushi fuer Anfaenger-14.html
Sushi fuer Anfaenger-15.html
Sushi fuer Anfaenger-16.html
Sushi fuer Anfaenger-17.html
Sushi fuer Anfaenger-18.html
Sushi fuer Anfaenger-19.html
Sushi fuer Anfaenger-20.html
Sushi fuer Anfaenger-21.html
Sushi fuer Anfaenger-22.html
Sushi fuer Anfaenger-23.html
Sushi fuer Anfaenger-24.html
Sushi fuer Anfaenger-25.html
Sushi fuer Anfaenger-26.html
Sushi fuer Anfaenger-27.html
Sushi fuer Anfaenger-28.html
Sushi fuer Anfaenger-29.html
Sushi fuer Anfaenger-30.html
Sushi fuer Anfaenger-31.html
Sushi fuer Anfaenger-32.html
Sushi fuer Anfaenger-33.html
Sushi fuer Anfaenger-34.html
Sushi fuer Anfaenger-35.html
Sushi fuer Anfaenger-36.html
Sushi fuer Anfaenger-37.html
Sushi fuer Anfaenger-38.html
Sushi fuer Anfaenger-39.html
Sushi fuer Anfaenger-40.html
Sushi fuer Anfaenger-41.html
Sushi fuer Anfaenger-42.html
Sushi fuer Anfaenger-43.html
Sushi fuer Anfaenger-44.html
Sushi fuer Anfaenger-45.html
Sushi fuer Anfaenger-46.html
Sushi fuer Anfaenger-47.html
Sushi fuer Anfaenger-48.html
Sushi fuer Anfaenger-49.html
Sushi fuer Anfaenger-50.html
Sushi fuer Anfaenger-51.html
Sushi fuer Anfaenger-52.html
Sushi fuer Anfaenger-53.html
Sushi fuer Anfaenger-54.html
Sushi fuer Anfaenger-55.html
Sushi fuer Anfaenger-56.html
Sushi fuer Anfaenger-57.html
Sushi fuer Anfaenger-58.html
Sushi fuer Anfaenger-59.html
Sushi fuer Anfaenger-60.html
Sushi fuer Anfaenger-61.html
Sushi fuer Anfaenger-62.html
Sushi fuer Anfaenger-63.html
Sushi fuer Anfaenger-64.html
Sushi fuer Anfaenger-65.html
Sushi fuer Anfaenger-66.html
Sushi fuer Anfaenger-67.html
Sushi fuer Anfaenger-68.html